Yabon

 

In der Schenke war es still.

Bis zum Sonnenuntergang waren es noch zwei Stunden, und der abendliche Trubel hatte noch nicht eingesetzt. Arutha war dankbar dafür. Er saß in der dunkelsten Ecke, und Roald, Laurie und die beiden Junker hatten sich auf die Stühle neben ihm gesetzt. Sein frisch geschnittenes Haar - kürzer, als er es seit Jahren getragen hatte - und sein allmählich voller werdender Bart machten aus dem Prinzen eine finstere Erscheinung, und das half dabei, ihre Tarnung als Söldner aufrechtzuerhalten. Jimmy und Locklear hatten in Questors Sicht einfachere Reisekleidung erstanden, und ihre Junkerröcke verbrannt. Alles in allem sahen die fünf jetzt aus wie ein ganz normaler Haufen Söldner ohne Arbeit. Selbst Locklear war überzeugend, denn er war auch nicht jünger als manche von denen, die sich hier herumtrieben: junge, aufstrebende Meuchelmörder, die auf ihren ersten Auftrag aus waren.

Sie warteten schon seit drei Tagen auf Martin, und Arutha wurde langsam besorgt. Zog man die Zeit in Betracht, zu der ihn die Botschaft erreicht haben mußte, hätte Martin Ylith eigentlich vor ihnen erreichen sollen. Dazu erhöhte jeder Tag in der Stadt die Chance, daß sich jemand an ihren letzten Auftritt dort erinnerte. Eine Wirtshausschlägerei, die einen Toten forderte, war zwar nichts Besonderes, dennoch mochte sich der eine oder andere daraufhin ein Gesicht merken.

Ein Schatten fiel auf den Tisch, und sie sahen auf. Vor ihnen standen Baru und Martin. Arutha erhob sich langsam, sie reichten sich die Hände, und Martin sagte: »Gut, dich wohlauf zu sehen.«

Arutha lächelte schief. »Und dich auch.«

Martin lächelte seinen Bruder auf gleiche Art an. »Du siehst ziemlich verändert aus.« Arutha nickte nur. Dann begrüßten er und die anderen Baru, und Martin sagte: »Wie ist er denn hierhergekommen?« Er zeigte auf Jimmy.

Laurie entgegnete: »Wie soll man ihn bremsen?«

Martin warf einen Blick auf Locklear und zog eine Augenbraue hoch. »Ich kann mich noch an das Gesicht erinnern, doch der Name ist mir entfallen.«

»Das ist Locky«

»Jimmys Schützling«, fügte Roald kichernd hinzu.

Martin und Baru wechselten einen Blick. Der hochgewachsene Herzog sagte: »Gleich zwei von ihnen?«

Arutha meinte: »Das ist eine lange Geschichte. Wir sollten an diesem Ort nicht länger verweilen als notwendig.«

»Einverstanden«, erwiderte Martin. »Aber wir brauchen neue Pferde. Unsere sind erschöpft, und ich gehe davon aus, daß wir noch einen langen Weg vor uns haben.«

Arutha kniff die Augen zusammen und antwortete: »Ja. Einen sehr langen.«

 

Die Lichtung war kaum mehr als eine breite Stelle in der Straße. Für Aruthas Gruppe war der heimelige gelbe Schein, der aus den beiden Stockwerken des Gasthofes strahlte, jedoch ein willkommener Lichtblick in der bedrückenden Dunkelheit der Nacht. Sie waren ohne weitere Zwischenfalle von Ylith aus an Zun und Yabon vorbeigeritten und hatten jetzt den letzten Außenposten des Königreichs vor sich. Wenn man direkt nach Norden fuhr, betrat man das Land der Hadati, und die Bergketten nördlich davon stellten die Grenze des Königreichs dar. Es hatte keine Schwierigkeiten gegeben, und alle waren erleichtert, als sie das Gasthaus erreichten.

Ein wachsamer Stalljunge hatte sie heranreiten gehört, kam aus seiner Kammer und öffnete ihnen die Scheune - nur wenige Reisende waren in dieser Gegend nach Sonnenuntergang noch unterwegs, und er hatte schon alles abgesperrt. Sie kümmerten sich rasch um ihre Tiere, wobei Jimmy und Martin gelegentlich einen Blick auf den Wald warfen, ob von dort Ärger drohte.

Als sie die Arbeit erledigt hatten, packten sie ihre Bündel und gingen zum Gasthaus hinüber. Während sie die freie Fläche zwischen der Scheune und dem Hauptgebäude überquerten, meinte Laurie: »Ist doch schön, daß wir jetzt eine warme Mahlzeit bekommen.«

»Könnte leicht die letzte für eine ganze Weile werden«, bemerkte Jimmy.

Dann standen sie vor dem Haus und entdeckten das Schild über der Tür, das einen auf dem Kutschbock seines Wagens schlafenden Mann darstellte. Das Maultier hatte sich losgerissen und rannte gerade davon. Laurie sagte: »Der Schlafende Kutscher gehört zu den besten Gasthäusern, die ihr je besuchen werdet, allerdings treibt sich hier zu manchen Zeiten sehr eigentümliches Volk herum.«

Sie öffneten die Tür und betraten einen hellen und freundlichen Gastraum. In einem großen Kamin brannte ein knisterndes Feuer, davor standen drei große Tische. Gegenüber der Tür auf der anderen Seite des Raums stand eine lange Theke, hinter der große Bierfässer lagerten. Und mit einem Lächeln auf den Lippen kam ihnen der Gastwirt entgegen, ein Mann in der Mitte seiner Jahre und von stattlicher Erscheinung. »Ah, Gäste. Willkommen.« Als er sie erreichte, wurde sein Lächeln noch breiter. »Laurie! Roald! Das gibt es doch nicht! Das muß doch Jahre her sein! Freut mich, euch zu sehen.«

Der Sänger sagte: »Grüß dich, Geoffrey Das sind Freunde von mir.«

Geoffrey nahm Laurie beim Arm und führte ihn zu dem Tisch neben der Theke. »Deine Freunde sind mir so willkommen wie du selbst.« Er setzte sie an den Tisch und sagte: »Freue mich wirklich, dich zu sehen. Wünschte, du wärst schon vor zwei Tagen hier aufgetaucht. Da hätte ich gut einen richtigen Sänger gebrauchen können.«

Laurie lächelte nur. »Gab es Ärger?«

Die Miene des Wirtes verriet seinen ständigen Kummer. »Wie immer. Wir hatten eine Gesellschaft von Zwergen hier, die sangen den ganzen Abend ihre Trinklieder. Und dazu mußten sie unbedingt den Takt klopfen, indem sie mit allem, was sie in die Finger bekamen, auf den Tisch schlugen: Weinbecher, Krüge, kleine Äxte. Was auf dem Tisch stand, war ihnen natürlich ganz und gar egal. Das ganze Geschirr ist kaputtgegangen, und der Tisch war vollkommen zerkratzt. Ich bin erst heute nachmittag damit fertig geworden, den Gastraum wieder einigermaßen in Ordnung zu bringen, und den Tisch mußte ich vollkommen erneuern.« Er warf Roald und Laurie einen spöttisch drohenden Blick zu: »Also fangt nicht wieder irgendwelchen Ärger an, wie letztes Mal. Ein Krawall pro Woche reicht mir.« Er deutete mit den Augen in die Runde. »Jetzt ist es noch ruhig, aber ich erwarte noch einen Wagenzug. Ambros, der Silberhändler, kommt zu dieser Jahreszeit immer in die Gegend.«

Roald sagte: »Geoffrey, wir sterben vor Durst.«

Der Mann entschuldigte sich augenblicklich. »Oh, tut mir leid. Ihr habt eine lange Reise hinter euch, und ich steh' hier und schwatze wie ein Klatschweib. Womit kann ich euch dienen?«

»Bier«, entgegnete Martin, und die anderen fielen im Chor ein.

Der Mann eilte davon und kehrte Momente später mit einem Tablett voller Zinnkrüge zurück, alle bis zum Rand mit kaltem Bier gefüllt. Nach einem ersten langen Schluck des bitteren Gesöffs fragte Laurie: »Warum treiben sich die Zwerge denn so weit von ihrer Heimat entfernt herum?«

Der Wirt setzte sich zu ihnen an den Tisch und wischte sich die Hände an der Schürze ab. »Habt ihr die Neuigkeiten nicht gehört?«

Laurie meinte: »Wir kommen gerade aus dem Süden. Was gibt es denn Neues?«

»Der Rat der Zwerge am Steinberg, ihre Versammlung in der langen Halle des Anführers Harthorn in der Ortschaft Delmoria.«

»Zu welchem Zweck?« fragte Arutha.

»Also, die Zwerge, die hier durchkamen, hatten den ganzen Weg von Dorgin zurückgelegt, und nach dem, was sie geredet haben, besuchen die Zwerge aus dem Osten zum ersten Mal seit ewigen Zeiten wieder ihre Brüder im Westen. Der alte König Halfdan von Dorgin schickt seinen Sohn Hogne und seine Rowdykumpanen, damit sie hier im Westen der Wiedereinsetzung von Tholins Linie beiwohnen. Seit Tholins Hammer während des Spaltkrieges wieder aufgetaucht ist, haben die westlichen Zwerge Dolgan von Caldara gedrängt, die Krone zu nehmen, die mit Tholin verlorenging. Zwerge von den Grauen Türmen, vom Steinberg, aus Dorgin und aus Orten, von denen ich niemals gehört habe, haben sich versammelt und wollen dabeisein, wenn Dolgan zum König der Zwerge aus dem Westen gekrönt wird. Weil Dolgan dem Rat zugestimmt hat, sagte Hogne, es sei ausgemachte Sache, daß er auch die Krone annehmen wird, doch ihr wißt ja, wie Zwerge sein können. Manche Sachen entscheiden sie auf der Stelle, über anderen wiederum brüten sie Jahre. Hängt wohl damit zusammen, daß sie so lange leben, schätze ich.«

Arutha und Martin lächelten sich milde an. Beide erinnerten sich gern an Dolgan. Arutha hatte ihn vor Jahren kennengelernt, als er mit seinem Vater in den Osten geritten war, um König Rodric die Nachricht von der bevorstehenden Invasion der Tsurani zu überbringen. Dolgan hatte ihnen als Führer in einer alten Mine gedient, der Mac Mordain Cadal. Martin hatte ihn später während des Krieges kennengelernt. Der Anführer der Zwerge war ein Mann mit Grundsätzen und scharfem Verstand, er hatte einen trockenen Humor und vor allem Mut. Beide wußten, er würde ein guter König werden.

Derweil sie tranken, legten sie nach und nach ihre Reisekleidung und ihre Helme ab und stellten ihre Waffen zur Seite. In der ruhigen Atmosphäre des Gasthauses entspannten sie sich. Geoffrey brachte reichlich Bier, und nach einer Weile kam auch das Essen - Fleisch, Käse, Gemüse und Brot. Währenddessen unterhielten sie sich über alles und jenes. Geoffrey erzählte Geschichten, die Reisende wiederum ihm erzählt hatten. Kauend meinte Laurie: »Die Nacht scheint ja ruhig zu werden, Geoffrey.«

Geoffrey meinte: »Ja, außer euch habe ich nur noch einen anderen Gast.« Er deutete auf einen Mann, der in der entferntesten Ecke des Gastraums saß, und alle drehten sich erstaunt nach ihm um. Arutha machte eine Geste, und sie wandten sich wieder dem Essen zu. Sie wunderten sich darüber, daß sie ihn die ganze Zeit nicht bemerkt hatten. Der Fremde schien sich seinerseits nicht für die Neuankömmlinge zu interessieren. Er sah ausgesprochen schlicht aus, und an seiner Kleidung oder seinem Benehmen fand sich nichts Auffälliges. Er trug einen dunkelbraunen Umhang, der ein Lederoder Kettenhemd verbergen mochte. An seinem Tisch lehnte ein Schild, dessen Wappen von einer ledernen Schutzhülle verdeckt wurde. Arutha wurde neugierig, da nur ein enterbter Mann oder einer auf einer heiligen Suche sein Wappen verbergen würde - unter ehrlichen Männern, fügte Arutha leise hinzu. Er fragte Geoffrey: »Wer ist das?«

»Weiß nicht. Heißt Crowe. Kam an, als die Zwerge gerade weg waren, und ist schon seit zwei Tagen hier. Ruhiger Typ. Immer für sich allein. Aber er zahlt die Zeche und macht keinen Ärger.« Geoffrey begann, den Tisch abzuräumen.

Nachdem der Wirt in der Küche verschwunden war, beugte sich Jimmy über den Tisch, als suche er in seinem Bündel auf der anderen Seite etwas und flüsterte: »Er ist in Ordnung. Er macht uns nichts vor, aber er spitzt die Ohren. Achtet auf eure Worte. Ich werde unseren Freund dort drüben im Auge behalten.«

Dann kam Geoffrey zurück und fragte: »Wo wollt ihr eigentlich hin, Laurie?«

Arutha antwortete: »Tyr-Sog.«

Jimmy meinte, den einsamen Kerl am anderen Tisch zucken gesehen zu haben, war sich jedoch nicht sicher. Der Mann beschäftigte sich eingehend mit seinem Essen.

Geoffrey klopfte Laurie auf die Schulter. »Aber zu deiner Familie reist du nicht, was?«

Laurie schüttelte den Kopf. »Nein, eigentlich nicht. Das ist schon zu lange her, und es gibt zu viele Meinungsverschiedenheiten.« Alle außer Baru und Locklear wußten, daß Laurie von seinem Vater enterbt worden war. Als Junge hatte Laurie der Arbeit als Bauer gleichgültig gegenübergestanden und sich lieber seinen Tagträumen und seinen Liedern gewidmet. Und da sein Vater viele Mäuler zu stopfen hatte, hatte er ihn kurzerhand im Alter von dreizehn aus dem Haus geworfen.

Der Wirt sagte: »Dein Vater ist hier vor zwei, nein fast drei Jahren vorbeigekommen. Kurz vor dem Ende des Krieges. Er und einige andere Bauern brachten Getreide für die Armee nach LaMut.« Er beobachtete Lauries Gesicht. »Er hat von dir gesprochen.«

Auf dem Gesicht des früheren Sängers zeichnete sich ein befremdlicher Ausdruck ab, den keiner der am Tisch Versammelten deuten konnte. »Ich hab' erwähnt, daß du dich schon seit Jahren nicht mehr hast blicken lassen, und er meinte: ›Na also, da haben wir ja beide Glück gehabt. Dieser nichtsnutzige Herumtreiber hat auch mich seit Jahren nicht mehr belästigt! ‹ «

Laurie brach in Gelächter aus. Roald fiel ein. »Das ist original mein Vater. Ich hoffe, dem alten Kerl geht es immer noch gut.«

»Das denke ich doch«, meinte Geoffrey. »Ihm und deinen Brüdern scheint es jedenfalls nicht schlecht zu gehen. Wenn es möglich ist, laß ich ihn wissen, daß du in der Gegend warst. Du bist mit der Armee davongezogen, das war zumindest das letzte, was man von dir gehört hat, und das ist jetzt auch schon fünf oder sechs Jahre her. Wo warst du denn die ganze Zeit?«

Laurie sah Arutha an, und beide hatten den gleichen Gedanken. Salador war ein Hof im fernen Osten, und die Nachricht, daß ein Junge aus Tyr-Sog dort jetzt Herzog und mit der Schwester des Königs verheiratet war, hatte sich noch nicht bis an die Grenze herumgesprochen. Beide waren erleichtert.

Laurie mußte sich Mühe geben, daß seine Antwort gelassen klang. »Hier und dort. Jüngst in Yabon.«

Geoffrey setzte sich an den Tisch. Er trommelte mit den Fingern auf das Holz und meinte: »Ihr würdet gut daran tun, wenn ihr auf Ambros wartet. Der will sicher auch nach Tyr-Sog. Ich wette, der könnte noch ein paar Leute gebrauchen, und auf dieser Route ist man in einer größeren Truppe besser aufgehoben.«

Laurie fragte: »Schwierigkeiten?«

Geoffrey entgegnete: »Im Wald? Ständig, aber in letzter Zeit ist es schlimmer geworden. Seit Wochen hört man immer wieder Geschichten von Goblins und Banditen, die den Reisenden das Leben schwermachen. Das ist nichts Neues, aber es scheint häufiger vorzukommen als sonst, und irgendwas ist seltsam an diesen Banditen und Goblins. Scheinbar ziehen sie alle nach Norden, so wird berichtet.« Er schwieg einen Moment lang. »Und dann haben die Zwerge etwas erzählt, als sie hier ankamen. Das war wirklich seltsam.«

Laurie gab vor, das einfach so abzutun. »Zwerge erzählen immer seltsames Zeug.«

»Aber das war tatsächlich etwas sehr Ungewöhnliches. Die Zwerge behaupteten, ihnen seien einige Dunkle Brüder über den Weg gelaufen, und sie als Zwerge wollten sich natürlich mit ihnen anlegen. Also haben sie angeblich die Dunklen Brüder gejagt und einen getötet. Der hätte jedenfalls tot sein sollen, aber der Kerl hatte wohl die Frechheit, einfach nicht zu sterben. Vielleicht wollten die jungen Burschen einem Wirt nur einen Bären aufbrummen, doch sie sagten, sie hätten diesem Bruder mit der Axt den Schädel fast in zwei Teilen gespalten, doch der hätte den Kopf nur mit den Händen zusammengedrückt und wäre seinen Spießgesellen hinterhergerannt. Die Zwerge waren so erschrocken, daß sie auf der Stelle stehenblieben und vergaßen, die Brüder weiter zu jagen. Und noch etwas: Die Zwerge meinten, sie hätten noch nie eine Bande der Dunklen Brüder getroffen, die so darauf aus waren, einfach davonzurennen, als müßten sie unbedingt irgendwo hin und hätten keine Zeit zum Kämpfen. Sie sind ein schlimmes Volk, und Zwerge mögen sie noch ein bißchen weniger, als sie andere Leute schon nicht mögen.« Geoffrey lächelte und zwinkerte. »Ich weiß, die älteren Zwerge sind trübselige Kerle, die die Wahrheit nicht verdrehen, aber diese jungen Burschen wollten mich ein bißchen zum besten halten, glaube ich.«

Arutha und die anderen zeigten sich nicht im geringsten erschüttert, wußten sie doch, daß die Geschichte stimmte - und damit war eins klar: die Schwarzen Kämpfer waren wieder im Königreich unterwegs.

Arutha sagte: »Vielleicht wäre es wirklich das Beste, wenn wir auf den Silberhändler warten würden, doch wir müssen leider mit dem ersten Tageslicht aufbrechen.«

Laurie erkundigte sich: »Wo du nur einen anderen Gast hast, dürfte es wohl mit den Zimmern keine Probleme geben?«

»Nein.« Geoffrey beugte sich zu ihnen vor und flüsterte. »Ich will ja einem zahlenden Gast gegenüber nicht unhöflich sein, doch der schläft tatsächlich hier im Saal. Ich habe ihm ein Einzelzimmer zu einem günstigen Preis angeboten, weil ich ja genügend Platz habe, doch er sagt nein. Was manche Leute tun, damit sie ein bißchen Silber sparen.« Geoffrey stand auf. »Wie viele Zimmer?«

Arutha entgegnete: »Zwei müßten für uns ausreichend bequem sein.«

Der Wirt schien enttäuscht zu sein, doch es kam häufiger vor, daß Reisende wenig Geld hatten, und daher war er nicht überrascht. »Ich werde noch zusätzliche Pritschen in die Zimmer bringen lassen.«

Während Arutha und die Gefährten ihre Sachen zusammenklaubten, spähte Jimmy zu dem fremden Mann hinüber. Außer für den Inhalt seines Weinbechers interessierte er sich scheinbar für wenig anderes. Geoffrey brachte einige Kerzen und entzündete sie am Feuer. Dann führte er die Gefährten die dunkle Treppe zu ihren Zimmern hinauf.

 

Irgend etwas weckte Jimmy. Die Sinne des früheren Diebes waren schärfer als die seiner Gefährten. Er und Locklear waren zusammen mit Roald und Laurie in einem Zimmer untergebracht. Arutha, Martin und Baru schliefen in dem Zimmer über dem Gastraum auf der anderen Seite des kleinen Ganges. Da das leise Geräusch von draußen kam, hatte es mit Sicherheit weder den früheren Jagdmeister von Crydee noch den Mann aus den Bergen geweckt. Der Junker des Prinzen spitzte die Ohren. Wieder hörte er ein schwaches Geräusch, ein leises Rascheln. Er stand leise von seinem Strohsack, der direkt neben Locklears am Boden lag, auf und schlich sich an den schlafenden Körpern von Laurie und Roald vorbei zu dem Fenster zwischen ihren Betten.

In der Dunkelheit glaubte er eine Bewegung zu bemerken, als wäre gerade jemand hinter der Scheune verschwunden. Jimmy fragte sich, ob er die anderen wecken sollte, doch er wollte sich nicht dumm anstellen und wegen nichts Alarm schlagen. Er nahm sein Schwert und verließ leise das Zimmer.

Mit bloßen Füßen ging er geräuschlos auf die Treppe zu. Am Treppengeländer war ein zweites Fenster, zur Vorderseite des Gasthauses hin. Jimmy spähte hindurch, und in der Dunkelheit sah er Gestalten bei den Bäumen auf der anderen Seite der Straße. Jemand, der des Nachts draußen herumschlich, konnte kaum ehrenwerte Absichten haben.

Jimmy eilte die Treppe hinunter. Die Tür war nicht verriegelt. Er fragte sich, weshalb, denn als sie sich in ihre Zimmer zurückgezogen hatten, war sie noch verschlossen gewesen, dessen war er sich sicher. Dann erinnerte sich Jimmy an den anderen Gast. Er fuhr herum und sah sich um; der Mann war verschwunden.

Jimmy ging zu einem Fenster und zog den Laden gerade weit genug auf, damit er hinausspähen konnte. Er sah nichts. Lautlos schlich er zur Tür hinaus und duckte sich vor dem Haus. Die Dunkelheit würde ihn schon verbergen. Schnell machte er sich zu der Stelle auf, an der er die Gestalten zuletzt gesehen hatte.

Eigentlich bereitete es Jimmy keine Schwierigkeiten, sich lautlos zu bewegen, doch im nächtlichen Wald hatte er damit seine Probleme. Er war zwar nicht gänzlich unerfahren darin, schließlich hatte er sich bei seiner Fahrt mit Arutha zum Moraelin bereits in einer solchen Umgebung bewegt, trotzdem blieb er ein Stadtjunge. Somit war er gezwungen, langsam vorzugehen. Dann hörte er Stimmen. Vorsichtig näherte er sich der Stelle und entdeckte ein schwaches Licht.

Einige Brocken von dem, was geredet wurde, konnte er schon verstehen, als er plötzlich vor sich auf einer winzigen Lichtung ein halbes Dutzend Gestalten entdeckte. Der Mann in dem braunen Umhang mit dem abgedeckten Schild sprach mit einer Gestalt in einer schwarzen Rüstung. Jimmy schnappte nach Luft und verhielt sich so still es nur ging. Das war ein Schwarzer Kämpfer. Vier weitere Moredhel standen schweigend an der Seite. Drei von ihnen trugen die grauen Mäntel der Waldclans, einer die Hose und das Gewand der Bergclans. Der Mann in Braun sagte: »... nichts, meine ich. So wie sie aussehen, einfache Söldner, mit einem Sänger, aber ...«

Der Schwarze Kämpfer unterbrach ihn. Seine tiefe Stimme schien irgendwie aus der Ferne zu kommen, und er atmete hörbar, während er sprach. Beunruhigenderweise war die Stimme Jimmy seltsam vertraut. »Du wirst nicht fürs Denken bezahlt, Mensch. Du wirst fürs Dienen bezahlt.« Er betonte seine Worte, indem er dem anderen mit dem Finger vor die Brust stieß. »Erledige deine Arbeit immer zu meiner Zufriedenheit, und wir werden unsere Beziehung erfolgreich fortsetzen. Wenn du mich enttäuschst, wirst du mächtig darunter leiden.« Der Mann im braunen Umhang gehörte nicht zu der Sorte Mensch, die sich leicht einschüchtern ließen, doch er nickte nur. Jimmy konnte das verstehen - die Schwarzen Kämpfer konnten einem wirklich Angst einjagen. Die Günstlinge von Murmandamus dienten ihrem Herrn selbst noch als Tote.

»Du sagst, es seien ein Sänger und ein Junge dabei?« Jimmy mußte heftig schlucken.

Der Mann warf seinen Umhang zurück und enthüllte dabei ein braunes Kettenhemd. »Also, ich denke, ihr könntet wahrscheinlich sagen, es sind zwei Jungen, doch sie sind schon fast Männer.«

Das brachte den Schwarzen Kämpfer aus dem Konzept. »Zwei?«

Der Mann nickte. »Könnten fast Brüder sein, so wie sie aussehen. Ungefähr die gleiche Größe, nur die Haarfarbe ist verschieden. Aber sie sind sich in gewisser Weise ziemlich ähnlich, so wie Brüder eben.«

»Moraelin. Da war nur ein Junge, nicht zwei ... Sag mir, befindet sich unter ihnen auch ein Hadati?«

Der Mann in Braun zuckte mit den Schultern. »Ja, aber Männer aus den Bergen treiben sich hier ständig herum. Wir sind hier in Yabon.«

»Der, den ich meine, stammt aus dem Nordwesten aus der Gegend vom Himmelssee.« Eine Weile lang hörte man nur das schwere Atmen hinter dem schwarzen Helm, als würde der Moredhel seinen Gedanken nachhängen - oder sich mit jemand anderem unterhalten. Der Schwarze Kämpfer schlug sich mit der Faust in die Hand. »Sie könnten es sein. War da einer dabei, der gerissen aussieht, ein schlanker Krieger mit dunklem Haar bis fast auf die Schultern, einer, der sich flink bewegt und glattrasiert ist?«

Der Mann schüttelte den Kopf. »Einer der Kerle ist glattrasiert, doch er ist groß, und ein Schlanker ist dabei, doch der hat kurze Haare und einen Bart. Wer glaubt Ihr, mögen sie sein?«

»Das brauchst du nicht zu wissen«, sagte der Kämpfer. Jimmy entspannte seine Beine, indem er langsam das Gewicht verlagerte. Er wußte, der Schwarze Kämpfer versuchte die Gruppe hier mit jener in Verbindung zu bringen, die im vergangenen Jahr am Moraelin aufgetaucht war. Dann sagte der Moredhel: »Wir werden warten. Vor zwei Tagen hat uns die Nachricht erreicht, daß der Lord des Westens tot ist, aber ich glaube nicht eher an den Tod eines Mannes, bis ich sein Herz in den Händen halte. Vielleicht hat es gar nichts zu bedeuten. Wenn ein Elb bei ihnen gewesen wäre, hätte ich das Gasthaus heute nacht niedergebrannt, aber ich bin mir noch nicht sicher. Trotzdem, bleib wachsam. Es könnten seine Gefährten sein, die zurückgekommen sind, um uns zu schaden und ihn zu rächen.«

»Sieben Männer, davon zwei noch fast Jungen. Was sollen die schon für eine Gefahr darstellen?«

Der Moredhel überging die Frage. »Geh jetzt zum Gasthaus zurück und paß auf, Morgan Crowe. Du wirst gut und schnell bezahlt, und zwar nicht, damit du Fragen stellst, sondern damit du gehorchst. Wenn sie das Gasthaus verlassen, verfolge sie in unauffälliger Entfernung. Wenn sie bis Mittag auf der Straße nach Tyr-Sog weiterziehen, reitest du zurück zum Gasthaus und wartest dort. Morgen nacht treffen wir uns wieder hier, und du sagst mir Bescheid. Aber verweile nicht, denn Segersen kommt mit seinen Leuten in den Norden, und du mußt ihn treffen. Ich brauche seine Pioniere und Sappeure. Ist das Gold sicher aufgehoben?«

»Ich hab' es immer bei mir.«

»Gut. Jetzt geh.« Einen Moment lang schien der Schwarze Kämpfer zu zittern und zu schwanken, dann hatte er seine Bewegungen wieder unter Kontrolle. Mit vollkommen anderer Stimme sagte er: »Tu, was dein Meister dir befohlen hat, Mensch.« Dann wandte er sich ab und ging davon. Innerhalb weniger Augenblicke war die Lichtung leer.

Jimmy stand der Mund offen. Jetzt begriff er. Er hatte die erste Stimme schon einmal gehört, im Palast, als der untote Moredhel Arutha hatte töten wollen, und dann noch einmal im Keller des Hauses der Verlorenen, bei dem Angriff auf die Nachtgreifer in Krondor. Der Mann namens Morgan Crowe hatte nicht mit dem Schwarzen Kämpfer gesprochen. Jimmy zweifelte nicht daran, mit wem er in Wirklichkeit gesprochen hatte. Murmandamus!

Jimmy hatte vor Überraschung einen Augenblick gezögert, und jetzt würde er das Gasthaus nicht mehr unbemerkt vor Crowe erreichen. Der Mann hatte die Lichtung bereits verlassen und die Laterne mitgenommen. In der Dunkelheit mußte sich Jimmy noch langsamer voranbewegen.

Als er an der freien Fläche bei der Straße ankam, sah er das rote Glühen des Kamins im Gastraum. Dann schloß Crowe die Tür. Jimmy hörte, wie der Riegel vorgelegt wurde.

Jimmy eilte am Rand des Waldes entlang, bis er vor dem Fenster seines Zimmers stand. Er kletterte rasch hinauf, wobei ihm das grobe Mauerwerk ausreichend Halt bot. Oben griff er in die Taschen seiner Jacke und holte eine Schnur und einen Haken hervor. Sofort hatte er den einfachen Riegel des Fensters aufgeschoben. Er zog das Fenster auf und stieg ein.

Zwei Schwertspitzen piekten ihm in die Brust, und er blieb stehen. Laurie und Roald senkten ihre Schwerter, als sie erkannten, wen sie da vor sich hatten. Locklear hatte sein Schwert ebenfalls gezogen und bewachte die Tür. »Was soll das denn werden? Suchst du vielleicht einen neuen Weg zum Sterben, nach dem Motto: Wie mir meine Freunde das Schwert in den Leib stießen?«

»Was ist das für ein Zeug, das du da hast?« Laurie zeigte auf die Schnur und den Haken. »Ich dachte, dieses Handwerk hättest du aufgegeben.«

»Still«, sagte der Junge und verstaute sein Einbruchswerkzeug. Mit gedämpfter Stimme sagte er: »Ihr seid auch seit einem Jahr kein Sänger mehr, und trotzdem schleppt Ihr diese Laute überall mit Euch herum. Also, hört zu, es gibt Schwierigkeiten. Dieser Kerl im Gastraum arbeitet für Murmandamus.«

Laurie und Roald wechselten einen Blick. Laurie sagte: »Das erzählst du besser gleich Arutha.«

 

»Also«, sagte Arutha, »sie haben also die Nachricht von meinem Tod erhalten. Und Murmandamus ist trotz des ganzen Schauspiels in Krondor nicht gänzlich von meinem Ableben überzeugt.« Sie hatten sich in Aruthas Zimmer versammelt, wo sie sich im Dunkeln leise besprachen.

»Dennoch«, meinte Baru, »anscheinend geht er zunächst davon aus, daß du tot bist, solange das Gegenteil nicht erwiesen ist, auch wenn er noch Zweifel hegt.«

Laurie sagte: »Er kann nicht ewig herumsitzen und warten. Er muß bald handeln, sonst bricht sein Bündnis mit der Bruderschaft auseinander.«

»Wenn wir noch einen Tag weiter in Richtung Tyr-Sog reisen, lassen sie uns in Ruhe«, warf Jimmy ein.

»Ja«, flüsterte Roald, »aber da ist immer noch Segersen.«

»Wer ist das?« fragte Martin.

»Ein Söldnergeneral«, antwortete Roald. »Aber von einer eigentümlichen Sorte. Er hat nie eine große Truppe, immer weniger als hundert, meist kaum fünfzig, doch dafür besondere Fachmänner: Mineure, Schanzer, Strategen. Er hat die beste Truppe, die man bekommen kann. Seine Spezialität ist Mauern niederzubrechen oder zu verteidigen, je nachdem, wer ihn bezahlt. Ich habe ihn einmal bei der Arbeit gesehen. Er hat Baron Croswaith bei seinen Grenzstreitigkeiten mit Baron Lobromill unterstützt, zu der Zeit, als ich bei Croswaith in Diensten war.«

»Ich habe auch von ihm gehört«, sagte Arutha. »Er arbeitet überall, von den Freien Städten bis hin nach Queg, also braucht er sich nicht um die Gesetze des Königreichs über Söldnertruppen zu kümmern.«

»Ich würde trotzdem gerne wissen, wofür Murmandamus eine Truppe hochbezahlter Schanzer braucht. Wenn er soweit im Westen etwas vorhat, muß er durch Tyr-Sog oder Yabon. Weiter im Osten sind die Grenzbarone. Doch er ist immer noch auf der anderen Seite der Berge, und in den nächsten Monaten wird er kaum irgendeine Stadt belagern.«

»Vielleicht soll nur niemand anders diesen Segersen anheuern?« äußerte sich Locklear.

»Vielleicht«, sagte Laurie. »Doch noch wahrscheinlicher braucht er Segersen für irgendein Unternehmen.«

»Dann müssen wir dafür sorgen, daß es fehlschlägt«, sagte Arutha.

Roald meinte: »Wir machen einen halben Tagesritt nach Tyr-Sog und kehren dann um?«

Arutha nickte nur.

 

Arutha gab das Zeichen.

Roald, Laurie und Jimmy bewegten sich langsam voran, während Baru und Martin sich davonschlichen, um die anderen zu umstellen. Locklear blieb zurück und hielt die Pferde. Sie waren den halben Tag lang in Richtung Tyr-Sog gezogen. Kurz nach Mittag hatte Martin sein Pferd gewendet und war zurückgeritten. Als er wieder auftauchte, berichtete er, daß der Mann namens Crowe sich auf dem Rückweg befand. Jetzt pirschten sie sich durch die Nacht hinter dem Mann her, dorthin, wo sich der Abtrünnige mit den Moredhel treffen sollte.

Arutha richtete sich leise auf und blickte über Jimmys Schulter. Wieder einmal hatte der Prinz einen der Schwarzen Kämpfer von Murmandamus vor sich. Der Moredhel in Rüstung sagte: »Hast du die Männer verfolgt?«

»Sie haben sich wie erwartet auf den Weg nach Tyr-Sog gemacht. Zum Teufel, ich habe Euch doch gesagt, sie stellen keine Gefahr dar. Ich habe einen ganzen Tag damit verschwendet.«

»Du tust das, was der Meister befiehlt.«

Jimmy flüsterte: »Das ist nicht die Stimme von gestern nacht, es ist die zweite.«

Arutha nickte. Der Junge hatte ihnen die Sache mit den beiden Stimmen erklärt, und sie hatten schon früher erlebt, wie Murmandamus sich des Körpers eines seiner Untergebenen bedient hatte. »Gut«, flüsterte der Prinz zurück.

Der Moredhel sagte: »Jetzt warte auf Segersen. Du weißt -«

Der Schwarze Kämpfer machte einen Satz nach vorn und fiel Crowe in die Arme, der ihn einen Moment lang hielt und ihn dann zu Boden sinken ließ. Der entsetzte Abtrünnige starrte mit weit aufgerissenen Augen auf den Schaft, der unter der Kante des Helms des Moredhel eine Elle weit herausragte. Martins Pfeil war durch den Nackenschutz des Schwarzen Kämpfers geschlagen und hatte ihn augenblicklich getötet.

Noch bevor die anderen vier Moredhel ihre Waffen ziehen konnten, hatte Martin den zweiten niedergeschossen, und Baru sprang zwischen den Bäumen hervor und schlug mit seinem langen Schwert einen dritten Moredhel nieder. Roald war auf der anderen Seite der Lichtung und tötete den nächsten. Martin erschoß den letzten Dunkelelben, während Arutha und Jimmy den Abtrünnigen Crowe gefangennahmen. Er machte kaum einen Versuch, sich zu verteidigen, zuerst, weil ihn der plötzliche Angriff so überrascht hatte und dann, weil er sich auf einmal in der Unterzahl sah. Offensichtlich war er verwirrt, besonders, als er beobachtete, wie Martin und Baru dem Schwarzen Kämpfer die Rüstung auszogen.

Die Angst wich einem tiefen Schock. Der Anblick von Martins blutigem Tun, der einem Schwarzen Kämpfer die Brust aufschnitt und das Herz herausholte, gab dem Mann den Rest. Er riß die Augen noch weiter auf, als ihm klar wurde, wer die Moredhel erledigt hatte. »Ihr -« Sein Blick ging fragend von einem Gesicht zum anderen, während sich die Gefährten um ihn versammelten. Dann bestaunte er wieder Aruthas Gesicht. »Ihr! Aber Ihr seid doch tot!«

Jimmy nahm ihm die versteckten Waffen ab und sah sich seinen Hals an. »Kein schwarzer Greif. Er ist keiner von ihnen.«

In Crowes Augen flackerte es wild. »Ich, einer von ihnen? Nein, niemals, Euer Gnaden. Ich überbringe nur Nachrichten, Sir. Damit verdien ich mir ein bißchen Gold, Euer Freundlichkeit. Ihr wißt doch, wie das Leben sein kann.«

Arutha scheuchte Jimmy mit einer Handbewegung davon. »Hol Locky. Ich will ihn nicht allein da draußen wissen, falls noch andere Dunkle Brüder in der Gegend sind.« Zu dem Gefangenen sagte er: »Was hat Segersen mit Murmandamus zu schaffen?«

»Segersen? Wer ist das?«

Roald trat vor und schlug Crowe mit der behandschuhten Faust, in der er einen schweren Dolch hielt, ins Gesicht. Die Nase des Abtrünnigen begann zu bluten, der Wangenknochen war gebrochen.

»Brech ihm nicht das Kinn, um Himmels willen«, sagte Laurie. »Dann kann er uns nichts mehr erzählen.«

Roald gab dem Mann einen Tritt, und der Kerl fiel zu Boden und krümmte sich vor Schmerzen. »Hör mal, Bursche, ich habe keine Zeit, mich zärtlich mit dir zu befassen. Also entweder antwortest du jetzt, oder wir bringen dich in kleinen Stücken zum Gasthaus zurück.« Er strich über die Schneide seines Dolches, um seine Worte zu bekräftigen.

»Was hat Segersen mit Murmandamus zu schaffen?« wiederholte Arutha seine Frage.

»Ich weiß es nicht«, brachte der Mann durch die blutigen Lippen hervor. Roald trat ihn nochmals, und wieder schrie der Kerl. »Ich weiß es wirklich nicht. Mir wurde nur gesagt, ich solle ihn hier treffen und ihm eine Botschaft überbringen.«

»Was für eine Botschaft?«

»Die Botschaft ist ganz einfach. Sie lautet: ›Bei der Inclindelschlucht. ‹ «

Baru sagte: »Die Inclindelschlucht ist ein schmaler Weg durch die Berge, von hier aus genau im Norden. Wenn Murmandamus diese Schlucht besetzt hält, kann er sie lange genug offenhalten, bis Segersens Truppe hindurchgezogen ist.«

»Aber wir wissen immer noch nicht, wieso Murmandamus eine Kompanie von Schanzern braucht«, bemerkte Laurie.

Roald witzelte: »Na, wofür braucht man wohl Schanzer, was?«

Arutha sagte: »Was ist dort zu belagern? Tyr-Sog? Die Stadt kann zu leicht aus Yabon Verstärkung bekommen, und zusätzlich muß man einen Weg durch die Länder auf der anderen Seite der Berge finden, wo die Nomaden der Donnernden Hölle leben. Der Eiserne Paß und die Wächter des Nordens sind zu weit östlich von hier, und er brauchte die Schanzer nicht gegen die Zwerge oder Elben. Bleibt nur Hohe Burg.«

Martin hatte seine blutige Arbeit beendet und sagte: »Vielleicht, aber es ist die größte Befestigungsanlage der Grenzbarone.«

Arutha entgegnete: »Ich mach mir keine Sorgen wegen einer Belagerung. Hohe Burg ist gegen Überfalle von Räuberbanden gebaut worden. Mit einer großen Menge Soldaten könnte man die Festung vielleicht erobern, und bisher hat Murmandamus noch keine Opfer gescheut. Trotzdem, dann säße er in der Mitte des Hogewalds und wäre kein Stück weiter. Nein, das macht keinen Sinn.«

»Wartet«, sagte der Mann auf dem Boden. »Ich bin nur Mittelsmann und werde nur für meine Arbeit bezahlt. Also, Ihr könnt mich nicht für das verantwortlich machen, was die Bruderschaft im Schilde führt, Euer Freundlichkeit, oder?«

Jimmy kam mit Locklear im Schlepptau zurück.

Martin sagte zu .Arutha: »Ich glaube, er weiß nicht mehr.«

Auf Aruthas Gesicht machte sich eine düstere Miene breit. »Er weiß, wer wir sind.«

Martin nickte. »Das weiß er.«

Plötzlich verlor Crowes Gesicht jede Farbe. »Seht, Ihr könnt Euch auf mich verlassen. Ich werde mein Maul schon halten, Euer Hoheit. Ihr braucht mir nicht einmal etwas dafür zu geben. Laßt mich nur gehen, und ich werde den heutigen Abend vergessen. Ehrlich.«

Locklear blickte von einem seiner grimmig dreinschauenden Gefährten zum nächsten. Das konnte er nicht fassen.

.Arutha bemerkte es und nickte Jimmy kurz zu. Der ältere Junge griff Locklear grob am Oberarm und zog ihn fort. »Was -?« setzte der jüngere Junker an.

Ein Stück weiter blieb Jimmy stehen. »Wir warten.«

»Worauf?« fragte der Junge, dem die Verwirrung offen ins Gesicht geschrieben stand.

»Bis sie getan haben, was sie tun müssen.«

»Was tun?« bohrte Locklear.

»Den Abtrünnigen töten.«

Locklear wurde blaß. Jimmys Stimme klang scharf. »Sieh mal, Locky, wir sind im Krieg, und dabei werden Menschen getötet. Und Crowe ist noch einer der übelsten von denen, die ihr Leben lassen müssen.« Locklear konnte die harte Miene von Jimmy nicht begreifen. Seit über einem Jahr hatte er in seinem Freund den Gauner, den Halunken und den Charmeur gesehen, doch jetzt entdeckte er jemanden, den er nicht kannte; den unbarmherzigen Kämpfer - einen jungen Mann, der getötet hatte, und der wieder töten würde. »Dieser Mann muß sterben«, sagte Jimmy trocken. »Er weiß, wer Arutha ist, und hast du nur einen Moment lang geglaubt, daß das Leben des Prinzen auch nur das Schwarze unter dem Fingernagel wert ist, wenn dieser Crowe freikommt?«

Locklear war durcheinander, sein Gesicht weiß. Es schlug die Augen nieder. »Könnten wir nicht ...«

»Was?« fragte Jimmy wütend. »Auf eine Patrouille Soldaten warten, die ihn mit nach Tyr-Sog nimmt und ihn dort vor Gericht stellt? Und selbst noch mitgehen, um eine Zeugenaussage zu machen? Ihn für ein paar Monate irgendwo gefesselt lassen? Sieh mal, vielleicht hilft es dir, wenn du daran denkst, daß Crowe ein Verbrecher und ein Verräter ist, und daß Arutha nur Recht spricht. Aber wie man die Sache auch dreht und wendet, wir haben keine andere Wahl.«

Locklears Gedanken schossen hin und her, dann ertönte von der Lichtung her ein erstickter Schrei, und der Junge stöhnte. Seine Verwirrung schien sich zu legen, und er nickte. Jimmy legte seinem Freund die Hand auf die Schulter. Eines war ihm allerdings klar: Locklear würde nie wieder der Junge sein, der er noch bis vor einem Moment gewesen war.

Sie waren zum Gasthaus zurückgekehrt und warteten, ganz zur Freude des etwas überraschten Geoffrey Nach drei Tagen erschien ein Fremder und ging direkt auf Roald zu, der den Platz von Crowe eingenommen hatte. Der Fremde sprach kurz mit ihm und brach dann wütend wieder auf, als Roald ihm mitgeteilt hatte, daß der Vertrag zwischen Murmandamus und Segersen hinfallig sei. Martin hatte Geoffrey gegenüber erwähnt, daß vielleicht ein gesuchter Söldnergeneral in der Gegend lagern würde. Er sei sicher, für den, der das hiesige Militär über seinen Aufenthalt informierte, spränge bestimmt eine Belohnung heraus. Am nächsten Tag verließen sie das Gasthaus in Richtung Norden.

Kurz nachdem die Schenke außer Sicht war, bemerkte Jimmy: »Geoffrey hat noch eine schöne Überraschung vor sich.«

Arutha fragte: »Wieso?«

»Nun, Crowe hat die Rechnung der letzten beiden Tage noch nicht bezahlt, also hat Geoffrey den Schild als Pfand genommen.«

Roald fiel in Jimmys Lachen ein. »Du denkst, dieser Tage wird er irgendwann unter die Abdeckung sehen?«

Auf allen Gesichtern außer dem von Roald machte sich Verwirrung breit. Jimmy sagte: »Er ist aus Gold.«

»Darum hat ihn Crowe nirgendwo liegenlassen, sondern immer mit sich herumgeschleppt«, fügte Roald hinzu.

»Und warum habt ihr alles außer den Sachen, die Baru benutzen wird, vergraben und nur den Schild mitgebracht?« fragte Martin.

»Er war die Bezahlung für Segersen. Niemand würde einen enterbten Krieger angreifen, der keine zwei Kupferstücke in der Tasche hat«, sagte Jimmy, während die anderen lachten. »Ist doch gut, daß der anständige Geoffrey ihn bekommt. Der Himmel weiß, wohin es uns verschlägt. Wir können ihn jedenfalls nicht gebrauchen.«

Das Gelächter erstarb.

 

Arutha gab das Zeichen zum Halten.

Sie waren von dem Gasthaus aus eine Woche lang ständig nach Norden vorgedrungen und hatten zweimal in Hadatidörfern übernachtet, in denen Baru bekannt war. Er war mit Respekt und Ehrbezeugungen empfangen worden, denn in den Hochländern der Hadati hatte sich herumgesprochen, daß er Murad getötet hatte.

Wenn die Männer der Berge neugierig auf die Identität seiner Gefährten gewesen waren, so hatten sie es jedenfalls nicht gezeigt. Arutha und die anderen waren sicher: über ihren Besuch würde kein Wort verloren werden.

Jetzt standen sie am Anfang eines schmalen Weges, der hinauf in die Berge zur Inclindelschlucht führte. Baru, der an Aruthas Seite ritt, erklärte: »Hier betreten wir wieder einmal Feindesland. Falls Segersen nicht auftaucht, ziehen die Moredhel ihre Wachen vielleicht vom Paß zurück, vielleicht laufen wir ihnen aber auch direkt in die Arme.«

Arutha nickte nur.

Baru hatte sich das Haar zurückgebunden und seine traditionellen Schwerter eingewickelt und in seiner Decke versteckt. Jetzt trug er Morgan Crowes Schwert an der Seite und das Kettenhemd des Abtrünnigen über seinem Rock. Es war, als hätte der Hadati zu existieren aufgehört und als wäre ein gemeiner Söldner an seine Stelle getreten. Das war auch ihre Geschichte. Sie waren einfach nur eine weitere Truppe von Abtrünnigen, die dem Banner von Murmandamus folgen wollten; hoffentlich hielt diese Geschichte einer möglichen Überprüfung stand. Seit Tagen hatten sie das Problem gewälzt, wie sie Murmandamus überhaupt erreichen konnten. Alle waren sich in einem einig gewesen: selbst, wenn Murmandamus daran zweifelte, ob Arutha tot war, würde er den Prinzen von Krondor niemals in seiner eigenen Armee vermuten.

Ohne weitere Gespräche machten sie sich auf den Weg, und Martin und Baru übernahmen die Führung. Ihnen folgten Arutha und Jimmy, dann Laurie und Locklear und am Schluß Roald. Der erfahrene Söldner hielt seine Augen fortwährend nach hinten gerichtet, während sie weiter zur Inclindelschlucht hinaufritten.

 

Zwei Tage lang ging es aufwärts, bis sich der Weg nach Nordosten wandte. Er schien weiter hinauf in die Berge zu führen, obwohl er noch immer an der Südseite entlangging. In gewisser Hinsicht befanden sie sich noch immer auf dem Boden des Königreiches, da die königlichen Kartenzeichner die Gipfel über ihnen zu Grenzmarken zwischen dem Königreich und den Nordlanden bestimmt hatten. Jimmy machte sich darüber jedoch keine Illusionen. Sie waren auf feindlichem Gebiet. Jeder, dem sie begegneten, würde sie sofort angreifen.

Martin wartete an einer Biegung der Straße. Wie er es sich auf ihrer Reise zum Moraelin angewöhnt hatte, ging er zu Fuß voraus und kundschaftete den Weg aus. Der Boden war zu steinig, um sich mit den Pferden rasch bewegen zu können, und so konnte er sich auch laufend an der Spitze der Gruppe halten. Er gab ihnen ein Zeichen, und die anderen stiegen ab. Jimmy und Locklear übernahmen die Tiere und führten sie ein kurzes Stück zurück die Straße hinunter. Sie hielten die Pferde fluchtbereit. Trotzdem, dachte Jimmy, würde eine Flucht zum Problem werden, weil der Weg so schmal war, und man nur an der Stelle von ihm abweichen konnte, wo er begonnen hatte.

Die anderen erreichten den Herzog, der die Hand hob, um ihnen Schweigen zu bedeuten. Sie konnten hören, weshalb er die Gruppe zum Halten gebracht hatte: ein tiefes Knurren, gelegentliches Bellen und als Erwiderung ein anderes, weniger vertrautes Knurren.

Sie zogen ihre Waffen und schlichen vorwärts. Kaum zehn Meter hinter der Biegung sahen sie eine Kreuzung von zwei Wegen. Der eine führte weiter nach Nordosten, der andere bog nach Westen ab. Dort auf dem Boden lag ein Mann. Ob er tot war oder nur bewußtlos, konnten sie nicht feststellen. Über seinem leblosen Körper stand ein Riese von einem Hund, der an einen Bullmastiff erinnerte, nur daß er zweimal so groß war und einem Mann bis zu Taille reichte. Um seinen Hals trug er ein ledernes Halsband mit spitzen Eisenstacheln, und er fletschte die Zähne und knurrte und bellte. Vor ihm duckten sich drei Trolle.

Martin ließ einen Pfeil fliegen, der den hintersten Troll in den Kopf traf. Die Spitze schlug in den dicken Schädel, und die Kreatur war tot, noch bevor sie es bemerkt hatte. Die anderen beiden drehten sich um, was sich als fataler Fehler erwies, denn der Hund sprang den einen Troll an und riß ihm mit seinen fürchterlichen Zähnen die Kehle auf. Der dritte versuchte zu fliehen, als er die fünf Männer erblickte, doch Baru war schneller und setzte über die Körper am Boden hinweg, zu denen sich sofort der dritte tote Troll gesellte.

Einen Moment lang kam das einzige Geräusch von dem Hund, der immer noch an dem toten Troll zerrte. Als die Männer sich näherten, ließ das Tier los, wich zurück und stand abermals Wache bei dem auf dem Bauch liegenden Mann.

Baru sah das Tier an, pfiff leise und flüsterte halb zu seinem Gefährten: »Das ist doch nicht möglich.«

Arutha fragte: »Was?«

»Dieser Hund.«

Martin sagte: »Möglich oder nicht, falls dieser Mann nicht schon tot ist, wird er bald sterben, wenn uns diese Bestie nicht an ihn heranläßt.«

Baru sagte ein fremdartig klingendes Wort, und der Hund spitzte die Ohren. Er legte den Kopf leicht schief und hörte auf zu knurren. Langsam kam der Hund auf sie zu, und Baru kniete sich hin und kratzte das Tier hinter den Ohren.

Martin und Arutha eilten zu dem Mann, um ihn zu untersuchen, derweil Roald und Laurie den Jungen halfen, die Pferde herzubringen. Als sich alle versammelt hatten, meinte Martin: »Er ist tot.«

Der Hund sah den toten Mann an und winselte, erlaubte Baru jedoch, ihn weiter zu kraulen.

»Wer ist das?« fragte Laurie. »Was führt einen Mann und einen Hund zu einem so einsamen Ort?«

»Und seht euch diese Trolle an«, fügte Roald hinzu.

Arutha nickte. »Sie sind bewaffnet und tragen Rüstungen.«

»Bergtrolle«, erklärte Baru, »Intelligenter, gerissener und gefährlicher als ihre Verwandten aus dem Tiefland. Sie sind schlimmer als Raubtiere, und sie gehören zu den schrecklichsten Feinden, die man sich denken kann. Murmandamus hat sich also Verbündete gesucht.«

»Aber dieser Mann?« fragte Arutha und deutete auf den Leichnam am Boden.

Baru zuckte mit den Schultern. »Wer es ist, kann ich nicht sagen. Aber was er ist, kann ich vermuten.« Er betrachtete den Hund vor sich, der zufrieden die Augen geschlossen hatte, während Baru ihn hinter den Ohren kraulte. »Dieser Hund ist so, wie jene in unseren Dörfern, nur größer. Unsere Hunde stammen von seiner Rasse ab, einer Rasse, die man seit hundert Jahren in Yabon nicht mehr gesehen hat. Diese Tiere heißen Drachenhunde.

Vor langer Zeit lebte mein Volk in kleinen Dörfern überall verstreut hier in den Bergen und auf den Hügeln an ihrem Fuße. Es gab keine Städte, und zweimal in jedem Jahr gab es eine Versammlung. Um unsere Herden vor den Raubtieren zu schützen, züchteten wir diese Hunde, die Drachenhunde. Sie wurden meist von den Drachenfängern benutzt und zu einer solchen Größe herangezüchtet, daß selbst ein Bär vor ihnen zurückwich.« Baru zeigte auf die Hautfalten um die Augen. »Dieser Hund packt seinen Gegner am Hals, und diese Falten leiten das Blut von seinen Augen fort. Er wird nicht eher loslassen, bis sein Gegner tot ist, oder bis es ihm sein Herr befiehlt. Das Halsband mit den Eisenspitzen soll ihn davor schützen, daß ihn selbst ein größeres Raubtier nicht in den Hals beißt.«

Locklear war erstaunt. »Noch größer! Das Vieh hat ja schon fast die Größe eines Ponys!«

Baru lächelte über die Äußerung. »Sie wurden zur Jagd auf Wywerns benutzt.«

Locky fragte: »Was ist ein Wywern?«

Jimmy antwortete. »Ein kleiner dummer Drache - nur etwa zwölf Fuß groß.« Locky sah die anderen an und wollte wissen, ob Jimmy ihn verkohlte. Doch Baru nickte nur und bestätigte Jimmys Erklärung.

Martin fragte: »Der Mann war sein Herr?«

»Höchst wahrscheinlich«, stimmte Baru zu. »Seht ihr die schwarze Lederkappe und den Lederpanzer? In seinem Gepäck werden wir sicherlich eine Eisenmaske finden, die man mit Lederbändern am Kopf festbinden und so über der Kappe tragen kann. Mein Vater hatte auch so eine Kappe in unserem Haus, ein Erbstück, das in unserer Familie von Generation zu Generation weitergereicht wurde.« Er sah sich um und entdeckte etwas bei den Trollen. »Da, hol das doch mal!«

Locklear rannte hinüber und kam mit einer riesigen Armbrust zurück. Er reichte sie Martin, der laut pfiff. »Das ist das verdammt größte Ding, das mir je unter die Augen gekommen ist.«

»Aber es ist nur halb so groß wie die größte Armbrust, die ich je gesehen habe«, bemerkte Roald.

Baru nickte zustimmend. »Sie heißt Bessyhammer. Wieso sie nach Bessy benannt wurde, weiß ich nicht, aber sie ist tatsächlich ein Hammer. Bei meinem Volk wurde gewöhnlich in jedem Dorf ein Drachenfanger angestellt, der die Herden vor Löwen, Bären, Greifen und anderen Raubtieren schützen sollte. Als Yabon zum Königreich kam und eure Adligen Städte und Burgen bauten, und als eure Patrouillen ausritten und das Land befriedeten, wurden die Drachenfanger nicht mehr gebraucht. Die Drachenhunde mußten nicht mehr so groß sein, und sie wurden nur noch als Haustier und zur Jagd auf kleineres Wild gezüchtet.«

Martin legte die Armbrust nieder. Er betrachtete einen der Bolzen, die der Mann in einem Hüftköcher bereithielt. Der Bolzen hatte eine Stahlspitze und war zweimal so groß wie normal. »Der sieht so aus, als könnte man damit ein Loch in eine Burgmauer schlagen.«

Baru lächelte schwach. »Nicht ganz, aber es hinterläßt wohl ein faustgroßes Loch im Panzer eines Wywern. Vielleicht tötet es das Wywern nicht, doch es wird es sich zweimal überlegen, ob es eine Herde überfallt.«

Arutha sagte: »Aber du hast gesagt, es gäbe keine Drachenfanger mehr.«

Baru tätschelte dem Hund den Kopf und stand auf. »Das hat man jedenfalls geglaubt. Dennoch liegt hier einer.« Er schwieg eine Weile. »Als Yabon zum Königreich kam, waren wir ein loser Verband von Clans, und wir wurden danach unterschieden, wie wir eure Leute behandelten. Manche von uns hießen eure Vorfahren willkommen, andere nicht. Wir Hadati behielten größtenteils unsere alte Lebensart bei, blieben weiter in den Hochländern und züchteten Rinder und Schafe. Doch jene, die in den Städten lebten, wurden schnell von euren in immer größerer Zahl kommenden Landsmännern vereinnahmt, bis es kaum noch einen Unterschied zwischen den Leuten aus der Stadt Yabon und denen aus dem Königreich gab. Laurie und Roald stammen aus einer solchen Familie. So wurde Yabon schließlich ein echter Teil des Königreiches.

Aber manche widersetzten sich dem König, und aus dem Widerstand erwuchs ein offener Krieg. Eure Soldaten marschierten zahlreich auf, und die Rebellion wurde schnell niedergeschlagen. Allerdings gibt es eine Legende - an die jedoch kaum jemand glaubt -, der zufolge sich einige Clans der Hochländer weder vor dem König verbeugen noch in den Krieg ziehen wollten. Deshalb wählten sie die Flucht und gingen in den Norden, um sich dort jenseits der Macht des Königreiches eine neue Heimat zu suchen.«

Martin betrachtete den Hund. »Dann ist diese Legende vielleicht doch wahr.«

»So scheint es«, meinte Baru. »Ich glaube, ich werde hier draußen irgendwo auf entfernte Verwandte stoßen.«

Auch Aruthas Blick hing jetzt an dem Hund. »Und wir finden Verbündete. Diese Trolle waren mit Sicherheit Diener von Murmandamus, und dieser Mann war ihr Feind.«

»Und der Feind unseres Feindes ist unser Verbündeter«, sagte Roald.

Baru schüttelte den Kopf. »Denkt daran, diese Menschen sind vor dem Königreich geflohen. Sie werden immer noch nicht besonders viel für Euch übrig haben, Prinz. Vielleicht haben wir mit ihnen die gleichen Schwierigkeiten wie Eure Vorfahren.« Das letzte setzte er mit einem schiefen Lächeln hinzu.

Arutha sagte: »Wir haben keine andere Wahl. Bis wir nicht wissen, was hinter diesen Bergen liegt, müssen wir jede Chance ergreifen, die sich uns bietet.« Er stimmte einer kurzen Rast zu, während der sie den Leichnam des getöteten Drachenfangers mit Felsen bedeckten und ein einfaches Hügelgrab errichteten. Der Hund stand starr daneben, als sie diese Arbeit erledigten. Erst nachdem sie fertig waren, bewegte sich der Hund wieder und legte den Kopf auf das Grab seines Herrn.

»Lassen wir ihn hier zurück?« fragte Roald.

»Nein«, entgegnete Baru. Wieder sagte er etwas in dieser eigentümlichen Sprache, und widerwillig kam der Hund an seine Seite. »Ihre Sprache muß immer noch die alte sein, denn der Hund gehorcht den Befehlen.«

»Und nun, wie geht es weiter?« fragte Arutha.

»Mit aller Vorsicht, aber ich denke, wir sollten uns von ihm führen lassen«, antwortete der Mann aus den Bergen und zeigte auf den Hund. Er sagte ein einziges Wort, worauf der Hund die Ohren spitzte und den Weg entlangtrottete. Kurz bevor sie außer Sicht gerieten, blieb er stehen.

Sie stiegen rasch auf und Arutha fragte: »Was hast du ihm gesagt?«

Baru erwiderte: »Ich habe ›heim‹ gesagt. Er wird uns zu seinen Leuten bringen.«